1. Eine vom Betriebsratsvorsitzenden ohne Beschluss des Gremiums abgegebene Erklärung zum Abschluss einer Betriebsvereinbarung kann dem Betriebsrat nicht nach den Grundsätzen einer Anscheinsvollmacht zugerechnet werden.
2. Der Betriebsrat hat bei Abschluss einer Betriebsvereinbarung die Nebenpflicht, dem Arbeitgeber auf dessen zeitnah geltend zu machendes Verlangen eine den Maßgaben des § 34 Abs. 2 S. 1 BetrVG entsprechende Abschrift desjenigen Teils der Sitzungsniederschrift auszuhändigen, aus dem sich die Beschlussfassung des Gremiums ergibt.
(Leitsätze)
BAG, Urteil vom 8. Februar 2022 – 1 AZR 233/21
Der Arbeitnehmer ist seit 1997 bei einem Unternehmen der Stahlindustrie beschäftigt; auf das Arbeitsverhältnis finden die Tarifverträge der Eisen- und Stahlindustrie Anwendung. Im maßgeblichen Lohntarifvertrag fand sich eine tarifliche Öffnungsklausel die bestimmte, dass für die tarifliche Eingruppierung eine analytische Arbeitsbewertung durch Regelungen einer Betriebsvereinbarung vorgenommen werden könne. Fehle eine entsprechende Betriebsvereinbarung, finde eine summarische Eingruppierung nach einem Lohngruppensystem statt. Zunächst galten im Unternehmen Betriebsvereinbarungen zur Eingruppierung nach analytischer Bewertung und zur Prämienzahlung aus dem Jahr 1967. Im Jahr 2017 verhandelten die Betriebsparteien im Rahmen einer Umstrukturierung u.a. über zwei ablösende Betriebsvereinbarungen zur summarischen Eingruppierung nach einem Lohngruppensystem sowie zur (abschmelzenden) Prämienzahlung. Der Betriebsratsvorsitzende unterzeichnete die ablösenden Betriebsvereinbarungen nach längeren Verhandlungen, ohne dass dazu ein Beschluss des Betriebsrats gefasst wurde. Die Tarifvertragsparteien haben die ablösenden Betriebsvereinbarungen, ohne Kenntnis des fehlenden Beschlusses, genehmigt. Im Nachgang erfolgte eine Eingruppierung des Arbeitnehmers im Lohngruppensystem, die einen monatlichen Entgeltverlust zur Folge hatte. Der Arbeitnehmer erhob Klage und verlangte unter anderem die Feststellung, dass maßgeblich für seine Eingruppierung weiterhin die Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 1967 sei. Diese sei, mangels Betriebsratsbeschluss, nicht durch die Betriebsvereinbarung aus 2017 abgelöst worden. Sowohl das Arbeitsgericht Wuppertal als auch das LAG Düsseldorf wiesen die Klage ab. Die Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 2017 sei durch die Unterzeichnung des Vorsitzenden formell wirksam zustande gekommen, da sie nach den Grundsätzen der Anscheinsvollmacht dem Betriebsrat zuzurechnen sei. Es seien für die Arbeitgeberin keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich gewesen, die sie daran hätten zweifeln lassen können, dass der Unterzeichnung der Betriebsvereinbarung ein Beschluss des Betriebsrats zugrunde gelegen habe. Es hätte daher auf Seiten der Arbeitgeberin der Vertrauenstatbestand – der sogenannte Rechtsschein – bestanden, dass der Betriebsratsvorsitzende aufgrund eines Beschlusses des Betriebsrats gehandelt habe. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat die Entscheidung des LAG Düsseldorf und des Arbeitsgerichts Wuppertal aufgehoben und dabei festgestellt, dass die Grundsätze der Anscheinsvollmacht im Hinblick auf die Unterzeichnung von Betriebsvereinbarungen keine Anwendung finden. Erklärungen des Betriebsratsvorsitzenden zum Abschluss einer Betriebsvereinbarung können daher nicht auf Grundlage einer Anscheinsvollmacht dem Betriebsrat zugerechnet werden. Begründet hat das BAG dies unter anderem damit, dass nach § 26 Abs. 2 S. 1 BetrVG der Vorsitzende den Betriebsrat nur im Rahmen der vom Betriebsrat gefassten Beschlüsse vertritt. Es erfolgt damit gerade keine Vertretung im Willen, sondern lediglich in der Erklärung. Damit stehe dem Betriebsratsvorsitzenden bereits von Gesetzes wegen nicht die Befugnis zur eigenen rechtsgeschäftlichen Willensbildung anstelle des Betriebsrats zu. Auch die normative Wirkung von Betriebsvereinbarungen gemäß § 77 Abs. 4 S. 1 BetrVG spreche eindeutig dagegen, die Grundsätze der Anscheinsvollmacht anzuwenden. Gerade diese unmittelbare Wirkung gegenüber den Beschäftigten erfordere, dass eine Willensbildung des Gremiums dem Abschluss einer Betriebsvereinbarung zugrunde liege. Der bloße Rechtsschein eines Beschlusses könne dem nicht entsprechen. Schließlich sei der Rückgriff auf die Grundsätze der Anscheinsvollmacht auch im Hinblick auf die Rechtssicherheit nicht erforderlich, da zum einen die Möglichkeit bestehe, dass der Betriebsrat die Erklärung des Betriebsratsvorsitzenden nachträglich – durch Beschluss – genehmigt und den Mangel heilt. Zum anderen sei der Arbeitgeber, wenn er dies zeitnah verlangt, auch berechtigt, eine den Vorgaben des § 34 Abs. 2 S. 1 BetrVG entsprechende Abschrift desjenigen Teils der Sitzungsniederschrift zu verlangen, aus dem sich die Beschlussfassung des Betriebsrats ergibt, die für die Wirksamkeit der abgegebene Erklärung erforderlich ist. Dies folge aus § 77 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 BetrVG. Eine Übersendungspflicht des Betriebsrats ohne entsprechendes Verlangen des Arbeitgebers bestehe jedoch nicht. Ebenso wenig folge hieraus, dass der Arbeitgeber ein Teilnahmerecht an den Beschlussfassungen des Betriebsrats erhält oder dass diesem ein Kontrollrecht der Beschlüsse des Betriebsrats zugestanden wird.
Fazit:
Die Entscheidung des BAG schafft Rechtssicherheit und zeigt auch auf, was vom Betriebsrat vorzunehmen ist, um Einwendungen des Arbeitgebers, der Unterzeichnung von Betriebsvereinbarungen hätten keine Beschlüsse des Gremiums zugrunde gelegen, zurückzuweisen. Gleiches gilt für die Möglichkeit der Heilung. Zwar erfordern Beschlüsse des Betriebsrats für ihre Wirksamkeit nicht zwingend der Aufnahme in das Protokoll der Betriebsratssitzung. Angesichts der Rechtsprechung des BAG ist es aber unbedingt zu empfehlen, Beschlüsse, die den Abschluss von Betriebsvereinbarungen zum Gegenstand haben, in das Protokoll aufzunehmen. Schließlich hilft die Rechtsprechung des BAG auch, wenn von Arbeitgeberseite verlangt werden sollte, dass die/der Betriebsratsvorsitzende ohne Beschluss des Gremiums „mal schnell“ eine Betriebsvereinbarung unterzeichnet.
Fabian Wilden, Rechtsanwalt
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